Darf es ein bisschen mehr sein? Selbstbestimmung und geteilte Verantwortung zwischen Betreuungsanbietern, Bewohnern und Angehörigen in alternativen Wohnformen

von Monika Schneider

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Alternative Wohnformen sind gefragt, auch für Menschen mit demenziellen Veränderungen. Ambulant betreute Wohngemeinschaften etablieren sich im „normalen“ Wohnungsbestand. Hier leben 6–12 pflegebedürftige Menschen in einer Gruppe zusammen. Sie werden von einem oder mehreren ambulanten Pflegediensten – meist rund um die Uhr – betreut. Jeder Bewohner hat seinen eigenen Wohn-/Schlafbereich, der individuell möbliert ist. Gemeinschaftlich genutzt werden Küche, Wohn- und Esszimmer und je nach baulicher Ausstattung auch die Bäder. Das Betreuungsperso-nal arbeitet nach den Vorgaben der Bewohner bzw. ihrer Betreuer oder Angehörigen und organisiert den Haushalt. Darüber hinaus wird individuelle Pflege angeboten.
Auch in der stationären Pflege finden Veränderungen statt. Pflegeheime gestalten ihre Angebote und Räumlichkeiten neu und bieten der Zielgruppe eine Alternative zum konventionellen Heim. Mit den sogenannten Hausgemeinschaften hat sich eine Gruppenwohnform etabliert, die sich in der stationären Einrichtung befindet oder auch als Außengruppe an das Heim angeschlossen ist.

Das Leben in kleinen Gruppen kommt den Wohn- und Betreuungsbedürfnissen der Zielgruppe entgegen. Sowohl die stationären als auch die ambulanten Wohnformen folgen diesem konzeptionellen Ansatz. Das Leben in einem überschaubaren Rahmen erleichtert den Bewohnern die Orientierung. Ziel der Gruppenwohnformen ist es, für Menschen mit demenziellen Veränderungen eine adäquate Wohn- und Betreuungs-form anzubieten, in der sie aktiviert in das Alltagsgeschehen eines Haushaltes mit einbezogen und so ihre vorhandenen Fähig- und Fertigkeiten genutzt werden. Das Leben in der Gruppe ist für die Betroffenen anregend und reduziert ihre Angst. Im überschaubaren Rahmen der kleinen Gruppe von Bewohnern und Betreuungskräften lässt sich leichter biographiebezogen arbeiten. Das Fortschreiten der Demenz kann durch diese Betreuungsform verlangsamt und der Einsatz von Medikamenten reduziert werden. Die Bewohner verleben einen würdigen Alltag in einer Gemeinschaft.

Die positiven therapeutischen Auswirkungen von Gruppenwohnformen werden sowohl von Fachleuten als auch von Angehörigen wahrgenommen und geschätzt. Das ist ein Grund warum das Interesse an alternativen Wohn- und Betreuungsformen steigt.

Gleichzeitig wächst die Zahl der Menschen, die an Demenz erkranken. Nach Schätzungen der deutschen Alzheimergesellschaft leben zurzeit 1,21 Mio. Menschen mit Demenz in der Bundesrepublik. Bis zum Jahr 2050 soll die Zahl auf 2,62 Mio. ansteigen.

Wegen der strengen ordnungsrechtlichen Trennung zwischen ambulanten und stationären Wohnformen haben sich die beiden Modelle unterschiedlich entwickelt. Die stationäre Wohnform unterliegt den gesetzlichen Vorgaben der Heimgesetzgebung, die auch Konsequenzen für die Finanzierung, die räumliche Gestaltung und den Einsatz von Personal hat.

Ob die Regeln des Heimgesetzes Anwendung finden, liegt nicht daran, wie sich die Wohngemeinschaft nennt, in welchem Wohnumfeld sie liegt oder welchen Versorgungsvertrag der Betreuungsanbieter hat. Das wesentliche Abgrenzungsmerkmal ist der Aspekt der Selbstbestimmung durch die Bewohner, ihre Angehörigen, Bevollmächtigten oder gesetzlichen Betreuer. Nur das selbstbestimmte Wohnen von älteren, pflegebedürftigen Menschen ist „aufsichtsfrei“ im Sinne der Heimgesetzgebung und entbindet die zuständige Heimaufsicht von ihrem gesetzlichen Auftrag des Schutzes der Bewohner.

Der Gesetzgeber definiert für ältere, pflegebedürftige oder behinderte Menschen ein Schutzbedürfnis, wenn ihnen in einer Wohneinrichtung neben dem Wohnen auch umfängliche Betreuungs- oder Pflegeleistungen angeboten werden. Das beruht auf der Annahme, dass durch die Verbindung von Wohnen und Betreuung eine „doppelte“ Abhängigkeit entsteht, die Menschen daran hindert, ihre Verbraucherinteressen durchzusetzen. Als Bewohner einer Pflegeeinrichtung sind sie vom jeweiligen Träger, der gleichzeitig Vermieter, Betreuungsanbieter und Verpflegungsgeber ist, existentiell abhängig und bedürfen der äußeren Unterstützung. Das Schutzbedürfnis der Bewohner ist dem Gesetzgeber so wichtig, dass er die ausführenden Behörden mit ordnungsrechtlichen Möglichkeiten ausgestattet hat, die sie z. B. auch gegen den Willen von Bewohnern und Angehörigen ausüben kann.

Seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 sind die Heimgesetze Ländersache. Sukzessive werden in den Bundesländern neue Gesetze eingeführt. Die gesetzliche Systematisierung der alternativen Wohnformen unterscheidet sich stark. Mal finden die Vorschriften der Heimgesetze auch auf die bis dato ambulanten Wohnformen Anwendung, mal wird darauf verzichtet. Im nordrhein-westfälischen Wohn- und Teilhabegesetz gibt es keine eigenen Vorschriften für die Wohngemeinschaften, hier gilt es, sich abzugrenzen gegenüber den Vorschriften des Gesetzes und den Nachweis zu führen, dass es sich um eine selbstbestimmte Wohnform handelt. Anders geht das bayerische Pflege- und Wohnqualitätsgesetz mit den Wohngemeinschaften um, hier sind sie in einem eigenen Abschnitt im Gesetz aufgenommen. Es gibt Vorschriften zu Qualitätsanforderungen und -kontrolle durch die Behörden, die jedoch verglichen mit den Anforderungen an den Betrieb stationärer Heime deutlich geringer sind.

Die Frage, wie eine Gruppenwohnform für Menschen mit demenziellen Veränderungen zu typisieren ist, wird durch das Konzept, die Gestaltung der Verträge, die rechtliche und tatsächliche Wahlfreiheit hinsichtlich des Betreuungsanbieters sowie den Nachweis der Selbstbestimmung entschieden.

Selbstbestimmung und Gruppenverantwortung

Die ambulante Wohnform, die sich außerhalb des Anwendungsbereiches des Heimgesetzes befindet, muss den Nachweis führen können, dass die Bewohner nicht des Schutzes durch die Heimgesetzgebung und deren ausführende Organe der kommunalen Heimaufsichten bedürfen.

Das ist eine schwierige Aufgabe insbesondere in Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz. Denn in der Regel haben sich die Bewohner oder ihre Angehörigen für diese Wohnform entschieden, weil die bisherige Betreuungsform nicht mehr ausreichend war. Das ist zumeist dann der Fall, wenn die Krankheit soweit fortgeschritten ist, dass das Leben in einer Wohnung alleine nicht mehr möglich oder die Versorgung in einem gemeinschaftlichen Haushalt bspw. durch den Ehepartner nicht mehr gegeben ist, da die Betreuung die Kräfte übersteigt. In jedem Fall sind sie in ihrer Alltagskompetenz soweit eingeschränkt, dass sie ihre Interessen nicht umfänglich und in aller Konsequenz selber vertreten können.

An Stelle der Bewohner muss diese Aufgabe nun zwingend von ihren gesetzlichen Vertretern oder Bevollmächtigten wahr genommen werden. Die spannende Frage in dem Zusammenhang ist, wie viel Präsenz müssen die Angehörigen und Betreuer in der Wohngemeinschaft haben, damit sie wirklich in der Lage sind, verantwortlich und umfänglich die Selbstbestimmungsfunktion stellvertretend wahr zu nehmen.

Die individuelle Selbstbestimmung ist aber nur eine Seite der Medaille, denn schließlich leben die Bewohner ja in einer Gruppe zusammen. Es wird ein gemeinsamer Haushalt betrieben, in dem es logischerweise auch viele gemeinschaftlich zu treffende Entscheidungen gibt. Wie soll der Haushalt organisiert werden? Wie werden die gemeinschaftlich genutzten Räume eingerichtet? Gibt es eine Hausordnung? Wie viel Geld soll für den gemeinschaftlichen Haushalt monatlich aufgebracht werden? Selbst wenn die Mietverträge einzeln abgeschlossen wurden, bleiben weitere Verträge, für die man gemeinschaftlich verantwortlich ist, mit dem Energieversorger, dem Telefonunternehmen oder einem Versicherungsanbieter für die gemeinschaftliche Hausratversicherung. Schließlich gilt es auch gegenüber dem Betreuungsanbieter gemeinschaftlich aufzutreten, wenn man die Interessen der Gruppe hinsichtlich der Haushaltsführung vertreten will.

Auch die Betreuung und Tagesstrukturierung in der Wohngemeinschaft wird in großen Teilen in der Gruppe gelebt. Kann man sich vielleicht noch leicht einigen in der Frage, wie die Lebensführung organisiert werden soll, so erfordert die Auseinandersetzung mit gemeinschaftlich getragenen Betreuungskonzepten eine gute Abstimmung. Zwar werden die Konzepte meist vom Betreuungsanbieter vorgeschlagen und sind auch für die meisten Angehörigen ein wichtiges Auswahlkriterium für diese Wohnform, aber was ist wenn sich im Laufe der Zeit Unzufriedenheit damit einstellt. Wirksam steuern können die Angehörigen und Betreuer nur dann, wenn sie gemeinsam Ziele und Teilziele benennen können.

Schließlich lässt sich die „Ultima ratio“ der ambulanten Wohnform, nämlich der Wechsel des Betreuungsanbieters, bei nüchterner Betrachtung des Wohngruppenkonzeptes nur gemeinschaftlich durchsetzen. Schließlich haben sich alle Bewohner in der Wohngemeinschaft zusammen gefunden, um durch das gemeinschaftliche Wohnen und das gemeinschaftlich getragene Pflegearrangement Synergien für sich zu erzeugen. Nur so wird es möglich, in einer kleinen Gruppe zu vertretbaren Kosten rund um die Uhr betreut zu werden. Also kann der einzelne praktisch seinen Vertrag nicht kündigen, ohne sich mit den anderen abzustimmen.

Als Bewohner einer Wohngemeinschaft ist man zwar individueller Mieter und auch individueller Auftraggeber für Pflege- und Betreuungsleistungen, wirklich wirksam durchsetzen lassen sich viele Interessen aber nur gemeinschaftlich. Faktisch befindet man sich sowohl in einer Mietergemeinschaft als auch in einer Auftraggebergemeinschaft.

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